Die ersten Bürgermeister von Groß-Berlin: Adolf Wermuth & Gustav Böß
17. September 2020: Lesung & Gespräch anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Groß-Berlin“ mit den Berlin-Historikern Prof. Dr. Felix Escher und Dr. Andreas Splanemann am 16. September 2020 im Rathaus Steglitz
Wer waren Adolf Wermuth & Gustav Böß? Welchen Anteil haben sie an der Gründung von Groß-Berlin 1920? Warum war diese Gründung notwendig? Wie veränderte sich die Metropole Berlin nach 1920? Welche Projekte waren erfolgreich? Welche damaligen Entscheidungen wirken bis heute nach? Antworten auf diese und viele andere Fragen gaben die namhaften Berlin-Historiker Prof. Dr. Felix Escher und Dr. Andreas Splanemann. Beide haben sich intensiv mit der Zeit vor und nach 1920 beschäftigt und darüber publiziert. Beispielsweise erschien im Frühjahr 2020 im Elsengold Verlag Berlin das Buch „Berlin wird Metropole – Eine Geschichte der Region“ von Prof. Escher. 1990 analysierte Dr. Splanemann in seinem Buch „Wie vor 70 Jahren Groß-Berlin entstand. Ein aktueller Rückblick nach dem Fall der Mauer“ die Zeit nach der Gründung von Groß-Berlin.
Die Veranstaltung begann mit einer biografischen Lesung über Wermuth & Böß, vorgetragen von dem Schauspieler & Sprecher Reinhard Scheunemann.
Der parteilose Beamte Adolf Wermuth (1855-1927) wurde am 12. Mai 1912 von der Stadtverordnetenversammlung mit den Stimmen der bürgerlichen Fraktionen zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. In dieser Funktion war er maßgeblich am Zustandekommen von Groß-Berlin und der dafür notwendigen Gesetzgebung beteiligt. Nach diesem Gesetz wurden die acht Städte Berlin, Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf mit 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken zusammengeschlossen. Am 1. Oktober 1920 trat das Gesetz über die „Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ in Kraft. Die Stadt vergrößerte sich um das 13fache und wurde mit knapp 4 Millionen Einwohnern nach London und New York zur drittbevölkerungsreichsten Stadt der Erde. Groß-Berlin wurde in 20 Bezirke eingeteilt. Wermuth trat im September 1920 – zwei Wochen nach seiner Wiederwahl – von seinem Amt zurück. Er starb am 11. Oktober 1927 in Berlin-Lichterfelde, wo er in den letzten Jahren lebte.
Dr. Gustav Böß (1873-1946) wurde sein Nachfolger und war zehn Jahre im Amt. In dieser Zeit führte er die Stadt durch schwierige finanzielle Jahre, organisierte u.a. eine gemeinsame Infrastruktur für die Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, neue Verwaltungsstrukturen für die neuen Bezirke, ließ Verkehrsnetzes erweitern bzw. neu bauen, förderte den Wohnungsbau, erweiterte die städtische Wohlfahrtspflege und verwaltete private Hilfsfonds, widmete sich der städtischen Kultur- und Kunstförderung und dem Sport. Er fühlte sich der Weimarer Politik verpflichtet und war zeitweise Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Immer wieder versuchte er zusätzliche finanzielle Mittel für den Auf- und Umbau der Metropole zu beschaffen, da Berlin durch die geltende Finanzausgleichregelung benachteiligt war. Deshalb besuchte er beispielsweise mit einer großen Berlin-Delegation im Sommer 1929 Amerika. Als er zurückkehrte, ereilte ihn der Sturz aus dem Amt wegen einer angeblichen Bestechungsaffäre in der Berliner Verwaltung, dem sogenannten Sklarek-Skandal. Böß zeigte sich selbst an, wurde vom Gericht freigesprochen und ließ sich zum 1. Oktober 1930 in den Ruhestand versetzen. 1936 zog er auf den Rat von Freunden nach Bernried am Starnberger See, wo er am 6. Februar 1946 im Alter von 73 Jahren starb.
Beide Oberbürgermeister haben einige Gemeinsamkeiten: Wermuth & Böß kamen nicht aus Berlin. Sie wuchsen in großbürgerlichen Familien mit monarchistischer Gesinnung auf. Wermuths Vater war Polizeidirektor in Hildesheim und Böß der Sohn eines Prokuristen in Gießen. Beide waren Spitzenbeamte: Wermuth im preußischen Innenministerium und Böß ab 1912 Leiter der Berliner Finanzverwaltung. Beide einte die Vision von Groß-Berlin.
„Durch die Industrialisierung und das gewaltige Bevölkerungswachstum lebten nach dem Ersten Weltkrieg über 3,8 Millionen in Berlin und den Vororten“, schreibt Splanemann in der Zeitschrift „Berliner Geschichte“ Ausgabe 20. Weil Berlin mit der schnellen Industrialisierung seit Beginn der 1880er Jahre zur größten und dynamischsten Wirtschaftsregion Deutschlands wuchs und parallel die Einwohnerzahl rasant anstieg, platzte die Stadt aus allen Nähten. Auch in den umliegenden Städten und Gemeinden erhöhte sich das Bevölkerungswachstum. Zum einen gab es reiche Städte und Gemeinden mit Steuervorteilen für die Reichen; zum anderen waren Städte bzw. Viertel mit Mietskasernen zugebaut, was auch zu sozialen Verwerfungen und einem eklatantem Mangel an kleinen bezahlbaren Wohnungen führte. Immer wieder gab es Pläne und Forderungen, die Städte und Gemeinden zusammenzulegen, um über einen Finanzausgleich das Ungleichgewicht abzufedern. Dazu Splanemann: In der Berlin-Diskussion gab es zwei große Lager. Die SPD und USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei) befürwortete eine großräumige Eingemeindung nach Berlin und die Schaffung einer Einheitsgemeinde. Ihre politischen Gegnersprachen sich für einen losen Zusammenschluss der Kommunen und die Bildung einer Gesamtgemeinde aus. 1919 legte das preußische Innenministerium einen Gesetzentwurf vor. Nach ausgiebiger Diskussion und einigen Änderungen wurde am 27. April 1920 in der Preußischen Landesversammlung über den Entwurf abgestimmt. Eine knappe Mehrheit aus USPD-, SPD- und einigen DDP-Stimmen votierte in der Landesversammlung für das Gesetz. Damit war der Weg für die Gründung der neuen Stadtgemeinde Berlin frei. Jetzt galt es, die Verwaltung für die neugeschaffene 4-Millionen-Metropole neu zu organisieren.
„Damals gab es drei Typen von Bezirken“, so Splanemann. „Städte wie Wilmersdorf mit eigenen Stadtverwaltungen. Das alte Stadtgebiet von Berlin hatte gar keine Bezirke, keine Büros – nichts. Es wurde in sechs neue Verwaltungsbezirke aufgeteilt. Alles musste neu aufgebaut werden. Dann gab es drittens völlig neue Bezirke, die aus der Zusammenlegung von Orten entstanden. Das betraf beispielsweise Zehlendorf, wo mehrere bislang eigenständige Gemeinden wie Wannsee, Nikolassee oder Schlachtensee zu einem neuen Bezirk vereinigt wurden. Es mussten neue Verwaltungen geschaffen und dafür Rathäuser gebaut werden. Das heißt, die neue Stadtgemeinde Berlin hatte mit den Bezirken neben der Zentralverwaltung eigene, dezentrale Verwaltungen, die für die örtlichen Belange zuständig waren.“
Die neue Stadtgemeinde Berlin mit den vielen hingekommenen Kommunen musste zuerst auf eine einheitliche Basis gestellt werden – eine gewaltige Aufgabe, die tatsächlich in kürzester Zeit gelöst wurde. Dazu Escher: „Neben der Bildung einer großen Verwaltungseinheit galt es auch die Versorgung mit Wasser, Gas und Strom, Be- und Entwässerung, Beleuchtung zusammenzuführen.“ Manche Kuriosität findet sich bis heute wie die unterschiedliche Straßenbeleuchtung in Lichterfelde und Steglitz. Für ihn gibt es die Probleme mit dem Nachbarland Brandenburg bis heute in gleichem Maße wie damals: „Die Umlandgemeinden wurden damals gegen Berlin gestärkt – wie heute.“
Splanemann sprach noch ein anderes Thema an: „Wenn wir von Groß-Berlin sprechen, sehen wir das immer wieder aus der Perspektive von Berlin. Aber es gibt noch eine andere Sichtweise, die nicht unterschätzt werden darf, nämlich aus der Provinz heraus. Brandenburg verlor mit der Bildung der neuen Stadtgemeinde rund zwei Millionen Einwohner und wichtige wirtschaftlich interessante Gebiete. Das wirkt bis heute im Land Brandenburg nach. Es gibt bis heute kein industrielles Zentrum in Brandenburg. Man versucht Städte zu stützen, aber die Musik spielt im Ballungsraum Berlin, im Speckgürtel. Das wird der Motor für die weitere Entwicklung sein und macht auch das Verhältnis zwischen Brandenburg und Berlin so schwierig. Berlin hat durch dieses Gesetz 1920 Reserven bekommen und wurde ständig erweitert. Angespannt ist die Lage wie damals auf dem Wohnungsmarkt. Jenseits der Stadtgrenze ließe sich gemeinsam etwas auf den Weg bringen.
Diese Projekte, von denen ich seit 30 Jahren schon geträumt habe, gibt es bis heute nicht. Das ist der Unterschied zur Weimarer Zeit, wo in kurzer Zeit viel auf den Weg gebracht wurde. Und wie lange dauert das heute!“
Ein anderes Beispiel: Ende Oktober 1923 startete der Rundfunk in Berlin. Im Sommer 1924 war die erste Berliner Funkausstellung ein Riesenerfolg. Ende 1924 wurde der Bau des Funkturms beschlossen und 1926, zur 3. Funkausstellung, feierlich eingeweiht. 1931 stand bereits das Haus des Rundfunks an der Masurenallee. Als 1923 der Bau des Flughafens Tempelhof beschlossen wurde, starteten und landeten bereits im Herbst die ersten Flugzeuge. „Und mit einem U-Bahnhof vor der Tür“, so Splanemann. „Das war sensationell. Noch ein Beispiel - der Bau der Onkel-Tom-Siedlung in Zehlendorf mit hunderten von Wohnungen und Häusern, die in kürzester Zeit gebaut wurden. Oder die Künstlerkolonie mit 800 Wohnungen, die von 1927 bis 1930 entstanden. Natürlich war der Druck groß, weil dringend Wohnungen gebraucht wurden, aber die Geschwindigkeit bei den Genehmigungsverfahren und beim Bauen – und die neuen Wohnviertel gleich mit Bahnanschluss – vermisse ich heute. Oder der Neubau des Strandbads Wannsee, bei dem es auch darum ging, den Menschen Freizeitmöglichkeiten anzubieten, die es in dieser Form gar nicht gab. Europaweit muss man sehr lange suchen, um solche Beispiele zu finden. Wenn man sich diese Zeitabläufe und das Tempo vor Augen führt, hatte Oberbürgermeister Böß daran einen großen Anteil. Solche kurzen Zeiträume kennt man heute nicht mehr. Heute dauert alles sehr lange.“ Dazu ergänzte Escher: „Das Entstehen der Großsiedlungen ist auch ein schönes Beispiel für das Zusammenwirken von privaten Bauherren, den neuen öffentlich-rechtlichen Unternehmen und den gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften, die in den 1920er Jahren gegründet wurden und selbst bauten.“
Stadtplanung und Verkehrspolitik bildeten damals eine Einheit. Dem damaligen Stadtrat für Verkehrswesen Ernst Reuter gelang es, die verschiedenen Verkehrsträger wie Straßenbahn, Omnibus und U-Bahn zusammenzuführen und einheitliche, erschwingliche Preise einzuführen – mit einem Ticket durch ganz Berlin. Am 1. Januar 1929 startete die Berliner Verkehrs-AG.
Wer sich die Biografien der damals wichtigen Personen ansieht, stellt fest, dass es viele Juristen unter den Stadtverordneten gab wie auch Wermuth und Böß. In der Regel waren es promovierte Juristen. Das ist kein Zufall, denn damals wurde auf Qualifikation allerhöchsten Wert gelegt. Es gab heftige Diskussionen, wenn die nötige Qualifikation nicht vorlag, um Stadtrat zu werden. Dafür war eine kommunale Kontrollinstanz zuständig, die über der Stadtbehörde angeordnet war – der preußische Oberpräsident, der seinen Sitz in dem noch heute erhaltenden Gebäude am Kaiserdamm 1 in Berlin-Charlottenburg hatte.
Auf die letzte Frage, was von den beiden Bürgermeistern bleibt, antwortete Escher: „Wermuth war eine tragische Gestalt, ein wilhelminischer Verwaltungsfachmann, der im monarchischen wilhelminischen Raum, für den Demokratie keine Rolle spielte, groß geworden war. Dann kam er nach Berlin. Im Ersten Weltkrieg hatte er andere Aufgaben und musste verhandeln – mit allen, mit Rechten, mit Linken, mit Bürgerlichen, mit Revolutionären, mit Gegnern der Demokratie. Er hat es auf sich genommen, aber letztlich ist er dabei gescheitert, weil er zwischen alle Stühle geriet.“
„Böß ging es nicht anders“, ergänzte Splanemann: „Er war eine geschundene Figur, die aus ähnlicher Schule wie Wermuth kam. Er war etwas jünger und musste sich auch auf die neuen Verhältnisse einstellen. Das gelang ihm vermutlich besser als Wermuth. Anders als der parteilose Wermuth war er zeitweise Mitglied der DDP. In seine Zeit fallen die außerordentlichen Aufbauleistungen, der Aufbau der neuen Stadt und das Konsolidieren des Erreichten. Das war keine Selbstverständlichkeit unter den damaligen schwierigen Umständen wie Inflation, Weltwirtschaftskrise und die Instabilität der Weimarer Republik. Böß musste das große Schiff Berlin durch die schwere See steuern. Das hat er meiner Ansicht nach gut gemacht. Am Ende seiner Amtszeit ist er Opfer rechter Verleumdungen geworden. Nach 1933 wurde er erneut beschuldigt und sogar inhaftiert. Man konnte ihm keine Schuld nachweisen und ließ ihn wieder frei. Aber diese Verleumdungen machten ihn auch zu einer tragischen Figur.“
Für Escher und Splanemann ist es wichtig, „dass Wermuth & Böß korrekt und fair historisch eingeordnet werden und dass über diese Zeit gesprochen wird. Beide haben es verdient. Berlin hatte das Glück mit Wermuth und Böß zwei Oberbürgermeister zu bekommen, die in der Lage waren, auf immer wieder auftretende schwierige Umstände adäquat zu reagieren.“
Der Lesung & Gespräch fanden im Rahmen der Veranstaltungsreihe Berlin SÜDWEST 2020 „100 Jahre Berlin SÜDWEST: Innovationen aus Wirtschaft & Wissenschaft I 30 Jahre UNESCO Welterbe Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin“. Mehr über das vom Regionalmanagement Berlin SÜDWEST und dem Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf von Berlin initiierte Programm im Internet unter www.rm-berlin-sw.de.
Zusätzliche Informationen in: Berliner Geschichte - Zeitschrift für Geschichte, Ausgabe 20
mit Artikeln u.a. von Prof. Dr. Felix Escher über Adolf Wermuth und den Zweckverband + Dr. Andreas Splanemann über das Groß-Berlin-Gesetz + Dr. Christian Engeli über Gustav Böß
Kontakt: Bärbel Petersen, Regionalmanagement Berlin SÜDWEST, Tel. 030/ 707 600 84, mail: presse@rm-berlin-sw.de